Hanans Weg – Eine Frau allein auf der Flucht

Die Schilderung der Flucht über die Balkanroute nach Deutschland geschieht meist aus der Perspektive eines Mannes. Das hat einen einfachen Grund: laut einer aktuellen Statistik des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge sind drei Viertel der 18 bis 30- jährigen Asylantragsteller in Deutschland Männer. Doch was bedeutet es für Frauen, zu fliehen? Wie ist es, wochenlang ohne Schutz unterwegs zu sein – in der Obhut von Schleppern und überwiegend von Männern umgeben? Für Frauen ist die Flucht aufgrund der Bedrohung durch sexuelle Übergriffe besonders riskant. Die meisten fliehen in Begleitung ihres Mannes oder eines männlichen Familienmitglieds. Hanan, 28, aus Damaskus, war allein auf der Flucht. Sie hat sich trotz der großen Gefahr auf den Weg nach Deutschland gemacht. Wir haben sie in der Flüchtlingsunterkunft in Leonberg besucht um ihre Geschichte zu hören.

Eine Reportage von Luisa Blendinger und Katrin Gildner

Vor ihr auf dem Tisch liegt ein halbseitig mit arabischer Schrift beschriebenes Blatt. Sie habe sich vorbereitet, sagt sie, und die wenigen Zeilen vermitteln den Eindruck, als sei in ein paar Sätzen alles über dieses einschneidende und folgenschwere Erlebnis gesagt. Zu diesem Zeitpunkt wissen wir nicht, dass wir das kleine Zimmer später am Abend mit zwei Stunden Tonmaterial verlassen werden. Hanan sitzt uns in einer schwarz-weiß gepunkteten Bluse gegenüber, die langen schwarzen Haare fallen ihr offen über die Schultern, während sie uns aus ernsten Augen entschlossen anblickt. Vom ersten Augenblick an wird klar: die junge Frau mit den feinen Gesichtszügen ist keine, die sich ängstlich zurückzieht und schweigt. Sie möchte uns von Syrien und ihrer Flucht erzählen, sagt sie und wirkt dabei selbstbewusst und unerschrocken.

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Wir gucken uns in dem kleinen Zimmer um, das nun Hanans neues Zuhause ist und in dem erstaunlicherweise ein Tisch, zwei Stühle, ein Waschbecken, Schrank und Kühlschrank Platz finden. Sie teilt es sich mit einer Irakerin. Die Kommode fängt als erstes unseren Blick – auf ihr versammeln sich alle persönlichen Gegenstände, die Hanan auf die Flucht mitnehmen konnte: Fotos von ihrer Familie, Teelichter, eine Schneekugel mit einem Engel, eine edle Koranausgabe. Das kleine Arrangement verleiht dem sterilen, funktionalen Raum, der Erinnerungen an Schullandheime wachruft, eine fast gemütliche Atmosphäre. Am Fuße eines der beiden Aluminiumbetten liegt ein kleiner schwarzer Rucksack, das einzige Gepäck, das die 28-Jährige auf ihrer Flucht mitgenommen hat. Grell leuchtet darauf der Slogan: „Let’s happily depart.“

Positiv motiviert war die Entscheidung zum Aufbruch aus der Heimat gewiss nicht. Hanan erzählt von ihrem Alltag. 2015. Ihr geht es gut in Damaskus. Seit 2012 studiert sie Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Virtuellen Universität Syrien – eine Universität, die internetbasierte Hochschullehre anbietet – und führt ein selbstbestimmtes Leben. Viele ihrer Freunde arbeiten bereits im Medienbereich oder wollen wie Hanan Journalisten werden. Dabei ist Syrien bereits damals für Medienschaffende einer der gefährlichsten Orte weltweit. Laut Reporter ohne Grenzen belegt es aktuell auf der Rangliste der Pressefreiheit den viertletzten Platz. Mit willkürlichen Festnahmen versucht das Assad-Regime jede unabhängige Berichterstattung zu verhindern und Journalisten abzuschrecken. Auch in Hanans Freundeskreis kommt es immer häufiger zu Verhaftungen.

Der stellvertretende Direktor der Virtuellen Universität Syrien, ein Freund von Hanan, schreibt öffentlich über die Situation im Land und unterstützt aktiv verschiedene Hilfsorganisationen. Eines Tages wird er vom Sicherheitsdienst aus der Universität geführt und verschwindet für ein halbes Jahr. Aufgeregt erzählt Hanan, dass der erst 23-Jährige während seiner sechsmonatigen Haft mit Elektroschocks gequält worden sei. Nach seiner Freilassung konnte er seine Arme nicht bewegen. Vorfälle wie diese häufen sich. Hanan fühlt sich zunehmend unsicher. Zwar ist sie nicht journalistisch aktiv, sie postet jedoch auf Facebook Fotos und Nachrichten von der Zerstörung in Syrien und engagiert sich ebenfalls in Hilfsorganisationen.

Als sie wieder, so wie alle drei Monate, in den Libanon zu ihrer Tante fahren will, nimmt ihr die Grenzpolizei den Pass ab und lässt sie eineinhalb Stunden warten. Im Anschluss erhält sie ihre Papiere zwar zurück, die Grenze darf sie jedoch nicht passieren. In der folgenden Zeit wird sie oft von einem Mann verfolgt. Er wartet auf sie vor ihrem Haus und versucht sie zu überreden, zu ihm ins Auto zu steigen. Sie vermutet, dass er inkognito für das Regime arbeitet, da er sie immer alleine treffen möchte. Der Geheimdienst wartet bis die Menschen alleine sind, sagt Hanan, damit niemand mitbekommt, wenn sie verschwinden.

„All the people said to me don’t go out at night and don’t go anywhere. Because if you go out alone the police will catch you, but they don’t have police clothes, they wear clothes like any people and come and catch you. Because the police knows where you go and they know everything, everything.“

Die Lage in der Stadt verschärft sich, Bombenexplosionen erschüttern die Stadt bei Nacht, Tote liegen mitten auf der Straße. Es gibt kaum noch Orte an denen Hanan sich sicher fühlt. In dieser Zeit beschließt sie zu fliehen. Eine ihrer Schwestern ist zu diesem Zeitpunkt bereits in Deutschland. Das gibt ihr Hoffnung. Hanan lebt mit ihrer Mutter und Großmutter. In ihrer Familie gibt es keine Männer, die sie über den Balkan begleiten könnten. Trocken sagt sie: „At my home I was the man.“

Ohne männliche Begleitung ist die Flucht für Frauen besonders gefährlich. Da sich die Fluchtwege in den einzelnen Ländern – abhängig von der lokalen Flüchtlingspolitik – ständig ändern können, ist die Abhängigkeit von Schleppern, Ausweisfälschern oder anderen Fluchthelfern meist unvermeidlich. In ihrer Not werden Frauen dabei schnell zu Erpressungsopfern. Noch in Damaskus tritt Hanan in Kontakt mit einem Freund ihrer Schwester, der sich zu diesem Zeitpunkt bereits in der Türkei aufhält. Er möchte nach Griechenland zu seiner Verlobten. Hanan verabredet sich mit ihm in Athen. Von Beirut bringt sie ein Flugzeug nach Istanbul, wo sie den besagten Bekannten trifft.

Hanan (vorne rechts) mit ihrer Gruppe an der Grenze in Edirne.

Hanan (vorne rechts) mit ihrer Gruppe vor der türkisch-griechischen Grenze.

Mit Bus und Taxi fahren sie nach Edirne, einer kleinen türkischen Stadt nahe der Grenze zu Griechenland. Vier Tage lang sitzen sie in Edirne fest. Die Grenze ist unpassierbar. In dem Hotel, in dem sie sich einmieten, treffen sie auf eine Gruppe aus dem Libanon, die auch nach Griechenland möchte. Sie schließen sich der Gruppe an. Nachts machen sie sich auf den Weg. Sie müssen sehr wachsam sein, da das Gelände vom Grenzschutz bewacht wird. Einer der libanesischen Männer schneidet hastig den Stacheldraht mit dem Messer auf, alle kriechen durch die kleine Öffnung. Anschließend beginnt ein elfstündiger Fußmarsch, jede Stunde fünf Minuten Pause. Auch Kinder sind in der Gruppe. Hanan berichtet fassungslos von der Nachlässigkeit eines Vaters gegenüber seiner kleinen Tochter.

Für kleine Kinder sind die langen Fußmärsche besonders anstrengend.

„From Turkey to Greek there was one pregnant libanesian woman with me and she had two children and the father didn’t care about the children. The children walked alone and I said to him please take care of the children but he said, no no she will learn. She will be strong if she walks alone. Only after one hour and 5 minutes the girl came to me and slept five minutes, then woke up and walk walk walk. This girl walked 11, 12 hours like me. I feel tired. What’s happened with that girl? She took care of her sister.”

 

Das Verhalten vieler Männer, denen Hanan auf der Flucht begegnet, empört sie: sie konsumieren Drogen, lassen ihre schwangeren Frauen im Stich und stehlen von anderen Flüchtlingen. Hanan scheut die Auseinandersetzung nicht und sagt auch oben genanntem Vater ihre Meinung ins Gesicht. Unbegreiflich ist ihr, wie viele Männer angesichts der Mangelversorgung mit Nahrungsmitteln und Hygieneartikeln in den Camps nur an Zigaretten denken können.

I think they scare about babies. They don’t scare about anything. Only they need cigarettes. We don’t have a place to sleep. We cannot breath because its too crowded. I cannot sleep. I have one woman with me, her baby has only 2 months. She needs a lot of things but the man only thinks about cigarettes. And I go and fight with all the man.“

In Griechenland geht es weiter mit dem Bus nach Athen. Hanans Begleiter hat mittlerweile seine Verlobte besucht und geht zurück in die Türkei. Ab sofort ist Hanan auf sich alleine gestellt. Im Hotel in Athen findet sie jedoch schnell Anschluss und lernt einen Iraker kennen, der sich besonders ortskundig gibt und falsche Pässe an die Flüchtlinge ausstellt. „You look italian“, sagt er zu ihr. Kurzerhand und um 300 Dollar erleichtert erhält sie eine neue Identität und macht sich auf den Weg zum Flughafen – Ziel: Italien. Der Sprachtest am Schalter lässt sie auffliegen, doch nach einem kurzen Gespräch darf sie den Flughafen verlassen. Dieser Rückschlag bedeutet für Hanan die erneute Herausforderung tagelanger Wanderungen und kräftezehrender Camp-Aufenthalte. Mittlerweile hat sie sich einer neuen Gruppe angeschlossen. Gemeinsam erreichen sie ein Lager an der mazedonisch-serbischen Grenze. Das Camp ist überfüllt, es fehlt an Nahrungsmitteln und Wasser.

„We have a lot of problems on the way but biggest problems in serbia and macedonia. Maybe because it’s a lot of people and they don’t organize food for all the people. We stayed two days without food. A lot of people have children or small babys and nobody helps.“

Diese Tage beschreibt Hanan als die schlimmsten. Sie kann nicht schlafen und hat Hunger. Viele Menschen im Camp kriechen vor Erschöpfung auf allen vieren. Die Wartezeit verlängert sich ins Ungewisse, da es nicht genug Busse gibt, um die Menschen weiterzubringen. Aufruhr und Panik machen sich angesichts der schlechten Versorgung breit. Die Angst, auf unbestimmte Zeit festzusitzen, ist zermürbend. Hanan denkt sogar darüber nach, zurück nach Syrien zu gehen. Sie verdankt es ihrer Gruppe, immer wieder aufs Neue Mut zu schöpfen und durchzuhalten.

“One time I feel like I don’t want anything. I wanna only die. Because no eat, I cannot sleep, I cannot drink. I wanna only close my eyes and don’t smell anything. One time I said to the group please go alone – I wanna stay here. I wanna be here and I wanna wait what happens with me. I have a friend in the group and he said: no if you wanna stay, we stay. I wanna go back to Syria. Because all of the way no one from my family don’t have any information about me.”

Als besonders traumatisch beschreibt sie außerdem eine achtstündige Zugfahrt – sie kann sich nicht mehr erinnern, wohin – während der sie sich kein einziges Mal setzen konnte. Die Luft war schlecht und die Fenster im Zug ließen sich nicht öffnen. Bis heute hat sie Probleme beim Zugfahren, bekommt Angst und Herzrasen.

Über die Strecke von Kroatien, Slowenien und Österreich nach Deutschland verliert Hanan nur wenige Worte. Manche Dinge hat sie vergessen oder es fällt ihr schwer, sie auf Englisch auszudrücken.

„Maybe I  cannot speak what I feel when I speak english. It’s too difficult to speak english and say whats happened with me at the way.“ (…)

Am 28. Oktober 2015, nach einem Monat auf der Flucht, erreicht Hanan Karlsruhe. Zwanzig Tage wohnt sie in der Erstaufnahmestelle. Das Lager ist schmutzig, es wird viel gestohlen. Die Stimmung ist schlecht. Seither ist fast ein halbes Jahr vergangen. Wir fragen Hanan, wie es sich anfühlt, in Deutschland zu sein. Ist sie glücklich?

 „I don’t come here because I wanna do something wrong. No I wanna come here to have a future. Because I don’t have future at syria.“

Hanan hofft weiter studieren und als Journalistin arbeiten zu können. Ihr ist bewusst, dass sie zunächst Deutsch lernen muss. „German is a difficult language“, sagt sie und neigt lächelnd den Kopf. Bevor das Leben in Deutschland für Hanan richtig losgehen kann, wird ihr Alltag vom Deutschkurs bestimmt. Doch allein die Tatsache, ihre Meinung frei äußern und offen sprechen zu können, scheint sie für den Verlust ihres Lebens in Syrien zu entschädigen: „Here I can speak what I want. But at Syria no I cannot speak what I want.“

Am meisten fehlt ihr jemand, dem sie sich anvertrauen kann und der sie versteht. Auf der Kommode in ihrem Zimmer steht ein Bild, das sie nach ihrer Ankunft in Leonberg gemalt hat. Es zeigt zwei einander umarmende Menschen, die Gesichter tief in die Schulter des anderen vergraben. Der Hintergrund, erklärt uns Hanan, ist in zwei Szenen aufgeteilt. Die rechte, dunklere Seite steht für die Situation in Syrien. Vor dem düsteren Farbraum zeichnen sich menschliche Silhouetten ab, die vor dem Krieg fliehen. Der linke Bildraum hebt sich in hellen Pastelltönen ab und zeigt schemenhaft eine Häuserlandschaft in Deutschland. Ein heller Lichtstrahl trennt das Bild diagonal und überströmt das Paar mit bunten Farben. Manchmal, sagt sie, fällt es ihr schwer, stark zu sein.

“Still to now I feel alone because I am a woman. I feel both on me. Still to now I should say okay I am strong. I am alone here but I should stay strong.

„Everytime when I sit alone maybe one time I feel crazy, maybe one time I feel I wanna cry. I want someone to be with me, to listen.“

Während unseres Gesprächs ist Hanan ein paar Mal den Tränen nahe und ihre Stimme versagt. Dann wartet sie kurz, richtet sich auf und spricht unbeirrt weiter. Die Flucht vor dem Krieg ist Hanan geglückt, die erste Hürde überwunden. Doch sie hat noch einen weiten Weg vor sich. In Damaskus hatte sie ihren festen Platz in der Gesellschaft. In Deutschland muss sie sich ihr Leben komplett neu aufbauen. Was sie jetzt braucht ist vor allem Geduld. Die Stärke und Entschlossenheit hat sie schon.

Hinweis der Autorinnen: ein Foto der Protagonistin wird nicht gezeigt, um sie und ihre Familie zu schützen. Manche Fragen konnten aufgrund von Verständigungsschwierigkeiten nicht restlos geklärt werden.